
September 2025
Wohnen mit und in der Natur
Eine Villa in der Franciacorta mit Blick auf den Iseosee – zwischen Weinbergen, Park und Wald
Im Herzen der Franciacorta, eingebettet in die Weinberge des familieneigenen Guts, hat Valentina Moretti ihr Haus als radikalen Akt der Versöhnung mit der Natur entworfen. Es geht hier nicht nur um Architektur, sondern um eine Lebenshaltung, eine Denkweise. Ein Haus, das nicht versucht, die Landschaft zu beherrschen, sondern selbst Landschaft wird – offen für Licht, Klänge, Jahreszeiten. Ein Haus als lebendiger Organismus, in dem jedes Element darauf ausgelegt ist, zu bestehen, zu altern, sich zu verändern – wie es die Natur selbst tut. Ein Werk, das die niedrige Definition – nicht als Mangel, sondern als wesentlicher Raum, als „Leere“, die der Vorstellungskraft und der Transformation überlassen wird – zu einer Stärke macht. Denn tatsächlich handelt es sich nicht um die übliche hochglanzpolierte Architektur: Das Werk übersetzt vielmehr die Idee eines weitläufigen Wohnkonzepts in vier brutalistisch anmutende Volumen, die zwischen dem Wald im Norden und dem Park im Süden positioniert sind, wo Struktur und dekoratives Element zusammenfallen und durch Zwischenräume miteinander verbunden sind. Hier ist die Beziehung zwischen Architektur, Einrichtung und Natur fließend, in ständiger Bewegung, lebendig. Ein Mikro-Ökosystem – ganz im Sinne von Luca Molinari, wie er es in seinem Buch Stanze beschreibt. Das Begehren bewohnen. In seinem Buch Stanze zitiert Luca Molinari Gio Ponti und schreibt über Räume als „Welten“, weil sie „das Porträt derer sind, die sie bewohnen und im Laufe der Jahreszeiten und ihres Lebens ständig verändern, aber auch, weil sie erzählen, was wir von der Welt genommen und wie wir sie verändert haben. Molinari lädt dazu ein, jeden Raum zu hinterfragen, in Kontakt mit den kleinsten Nuancen unserer Existenz zu treten, die uns ein Gefühl der Vollständigkeit hinterlassen und uns erlauben, die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Das Privileg, Details zu entdecken, die uns berühren, und sich von ihnen überraschen zu lassen, ist für ihn eine Übung der Verwunderung, die gepflegt werden will. Jeder Raum besteht nicht nur aus Wänden und Objekten, sondern wird auch durch subtilere Materien definiert: das wechselnde Licht und das Zusammenspiel der Farben, die Geräusche der Oberflächen und das taktile Gefühl jedes Materials. Gerüche, verbunden mit den bewohnten Räumen, mit Tieren, mit Menschen, tragen dazu bei, die einzigartige Atmosphäre jedes Ambientes zu schaffen.
Laura Arrighi: Wir haben die von Luca Molinari vorgeschlagene Übung gemacht. Edra hat in deinem Haus durch seine Modelle die Beziehung zwischen feinen Materialien, Möbeln und Räumen, Künstlichkeit und Natur mit unerwarteten Verbindungen interpretiert. Die Spiegelungen des Wasserbeckens am Eingang haben sich im Garten dank der Kollektion A’mare verfestigt. Die Gigli (Lilien) e le Rose (Rosen) sind in den Räumen aufgeblüht. Die Sessel Ella, deren Form an eine Blume erinnert, und die Spiegeltische Brasilia haben mit ihren Licht- und Farbspielen die Räume erhellt und uns erstaunliche Reflexe geschenkt. Dann der Außenbereich: der große Garten, die Veranda, aber auch die „restlichen“ Winkel neben dem Haus sind zu kleinen Open-Air-Salons geworden, in denen Sofas die Texturen der Natur in dreidimensionale Objekte verwandelt haben.
Valentina Moretti: Ich liebe es, das Haus fotografieren zu lassen. Bei diesen Gelegenheiten nehmen die Zwischenräume – der Eingang mit dem Becken, der Spielbereich mit der wunderschönen Eckverglasung mit Blick auf die Weinberge, der Korridor, die Veranda – eine unerwartete Funktion an: Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Denkraum. Sie werden auf ganz persönliche Weise wahrgenommen, und auch ich habe so die Möglichkeit, neue Potenziale zu entdecken: nicht nur in der Nutzung, sondern auch in Bezug auf Ausblicke, Einblicke, Beleuchtung und Farben.
Laura Arrighi: Das Haus ist auch ein Prototyp und „Manifest“ der Konstruktionsmethode Moretti-MORE, dem Unternehmen, das du 2010 mit Francesco Matricardi gegründet hast: ein Modell, das Bauunternehmen und Planungsbüro integriert. Ein Forschungslabor für zeitgenössisches Wohnen, das fortschrittliche Vorfertigung, Zeit- und Kostenkontrolle, Umweltbewusstsein und eine hohe räumliche Sensibilität vereint.
Valentina Moretti: Das Haus besteht aus Eisen, Holz, vorgefertigtem Beton und Glas. Es erstreckt sich über drei Ebenen auf einem Grundstück von tausend Quadratmetern: ein Untergeschoss, ein Erdgeschoss mit 400 Quadratmetern und ein Volumen auf der Dachterrasse, das die Idee von Le Corbusiers Cabanon aufgreift. Das Tragwerk, das sich ausschließlich an den Außenwänden befindet, ermöglicht einen offenen Grundriss, der sich jederzeit flexibel neu gestalten lässt. Die Aufteilung gliedert sich wie ein Kamm: Vier Hauptvolumen – „vier Bäume“ – beherbergen die intimeren Funktionen, während die Räume dazwischen zu Orten der Begegnung werden, die ständig im Dialog mit dem Außenbereich stehen.
Laura Arrighi: Was bedeutet es, flexible Räume zu entwerfen?
Valentina Moretti: Es bedeutet, starre Funktionen zu vermeiden. Ich habe drei Kinder: Sollten sie eines Tages ausziehen, könnte ich die Räume komplett neu organisieren – ein Atelier für Workshops und Events einrichten oder ein Bed & Breakfast daraus machen.
Laura Arrighi: Das Haus besteht aus rohem Beton, der mit einem dunklen Anthrazitpigment eingefärbt wurde, um sich harmonisch an die Baumstämme des Waldes anzupassen. Dazu kommen unbehandeltes Massivholz und Porphyr, der sich nahtlos von innen nach außen fortsetzt. MORE wählt „umweltbewusste“ Materialien und setzt auf eine Schönheit, die die Zeit nicht fürchtet.
Valentina Moretti: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Material den Lauf der Zeit erzählen muss. Schönheit liegt nicht in der Perfektion, sondern in der Spur, in der Erinnerung, die jedes Material hinterlässt. In einer Zeit, in der alles dazu neigt, künstlich und geschönt zu wirken, glaube ich, dass Authentizität wichtiger ist.
Laura Arrighi: Natur wird oft mit der Idee des beruhigenden und besänftigenden Grüns verbunden, das nur eine dekorative Funktion hat. Neuere Forschungen zeigen jedoch, dass sich unsere ästhetischen, ethischen und kulturellen Vorstellungen darüber gerade verändern. Heute erobert die ungezähmte, wilde, widerständige Natur immer mehr Raum in unseren anthropogenen Gebieten. Die Paradigmen neuer Wohnlandschaften, auf die auch dieses Haus Bezug zu nehmen scheint, bewegen sich in Richtung einer inklusiven Logik – einer allo-zentrischen Sichtweise, in der die Häuser als Pufferzonen neu gedacht werden, die die Kontakte zu dem, was „draußen“ ist, neu gestalten und den Sinn der Schwelle verstärken. Welche Rolle spielt die Natur in diesem Projekt?
Valentina Moretti: Eine grundlegende. Das Haus wurde so konzipiert, dass es sich optisch nahtlos einfügt: Wir befinden uns im Garten meiner Eltern, dort, wo jetzt das Haus steht, war früher ein Gemüsegarten. Der Garten selbst ist weiterhin sehr gepflegt, aber das Haus öffnet sich auf einer Seite direkt zum Wald. Ich wollte, dass die Bäume ganz nah bleiben, fast „anliegen“. Im Sommer spenden die Äste Schatten, und das Haus kühlt sich auf natürliche Weise ab; im Winter fallen die Blätter, und das Licht dringt ein. Das schafft eine direkte, fast physische Beziehung. Es gibt ein Streben nach Horizontalität durch ein großes Gründach, das mit Gräsern bepflanzt ist, die sich selbst erhalten und kaum Pflege brauchen – dort ist sogar ein kleiner Baum gewachsen, den ich nie gepflanzt habe. Das Dach ragt über die Volumen hinaus und umhüllt sie. Es gibt auch – symbolisch gesehen – die Idee, unter Wurzeln zu schlafen. Gerade diese Unvorhersehbarkeit, dieses „wuchernde“, nicht geplante Element fasziniert mich. Das Grün ist hier ein integraler Bestandteil der Architektur: Es schützt, isoliert, erzählt.
Laura Arrighi: Klang, Licht, Stille. Gibt es ein Naturelement, das dir besonders nahe ist?
Valentina Moretti: Definitiv der Klang, der hier sehr mächtig ist. Manchmal vergesse ich ihn, aber wenn ich ein im Haus aufgenommenes Video anhöre, bin ich erstaunt: Vögel, Rascheln, Wind. Der „furchterregende“ Klang des unaufhörlichen Regens während eines Sturms fasziniert mich. Dann gibt es die fast absolute Stille der Nacht. Und natürlich das Licht: Jede Jahreszeit, jede Tagesstunde verwandelt den Raum. Am Morgen ist das Erste, was ich sehe, das Fenster meines Badezimmers: 90 x 90 Zentimeter, ein lebendiges Bild aus Blättern. Wenn der Herbst kommt, verändert sich die Landschaft jeden Tag. Das ist auch eine Art, im Einklang mit dem Rhythmus der Welt zu leben.
Laura Arrighi: Bleiben wir beim Thema Licht – wie gehst du mit künstlicher Beleuchtung um?
Valentina Moretti: Beleuchtung ist entscheidend, um die Atmosphäre eines Raums zu gestalten. Ich kann Räume, die ausschließlich mit Spots beleuchtet werden, überhaupt nicht leiden – das wirkt wie ein Flughafen, zu flach und unpersönlich. Ich bevorzuge Tisch- und Stehlampen sowie Kronleuchter, die Lichtinseln schaffen und das gesamte Bild verändern. Das Licht soll sich den Tageszeiten und meinen Tätigkeiten anpassen, und ich mag es, wenn es dadurch die Stimmung des Raumes verändert.
Laura Arrighi: Du hast vom Rhythmus der Welt und vom Anpassen des Lichts gesprochen. Kann ein Haus die Beziehung zum „Natürlichen“ lehren?
Valentina Moretti: Ein solches Haus lehrt zuallererst die Zyklizität. Es zeigt, dass nichts statisch ist: Die Natur verändert sich – und mit ihr das Haus. Man gewöhnt sich an den Gedanken, dass es kein „für immer“ gibt: Alles wandelt sich, auch unsere Art zu wohnen. Die Natur lehrt, dass Altern kein Makel ist, sondern ein normaler Prozess. Und sie lädt ein, mehr draußen zu leben, aufzustehen, hinauszugehen, gemeinsam Zeit zu verbringen. Das hat auch eine erzieherische Wirkung auf Kinder: Sie lernen, dass Veränderung Teil des Spiels des Lebens ist.
Laura Arrighi: Mir ist die Richtung, was Architektur und die Beziehung zur Landschaft betrifft, sehr klar.
Aber ich tue mich schwer, einen Stil für das Innere zu definieren. Vielleicht ist das aber auch gar nicht das, was du suchst.
Valentina Moretti: Die Wahl von Möbeln, Accessoires und Kunstwerken ist oft emotional begründet. Ich mag keine stilistischen Zwänge. In meinem Haus stehen sehr unterschiedliche Stücke nebeneinander – zum Beispiel ein tiroler Schrank neben einem modernen, weißen Metallschrank. Darauf hängt ein Bild, das mir meine Mutter geschenkt hat, mit einem Rahmen aus dem 19. Jahrhundert. Aber vielleicht landet dieses Bild in zwei Monaten im Gästezimmer und wird durch ein großes Foto ersetzt. Ich bevorzuge einzigartige und ikonische Stücke. Ich wähle Unternehmen, die zeitloses Design anbieten.
Laura Arrighi: Du hast die Technologie erwähnt. Wir haben viel über Natur gesprochen. Das Unternehmen MORE zeichnet sich dadurch aus, dass es diese Identitäten vereint: innovativ, industriell, technologisch. Es ist aber auch äußerst umweltbewusst. Ich denke an die gerade eröffnete Architekturbiennale in Venedig, kuratiert von Carlo Ratti, unter dem Titel Intelligens. Natural. Artificial. Collective. Eine Ergründung der Architektur als erweitertes Feld, das verschiedene Formen von Intelligenz integrieren kann.
Valentina Moretti: Ich sehe keinen Widerspruch zwischen Technologie und Natur – solange Technologie klug eingesetzt wird. MORE arbeitet auch mit sehr alten Materialien wie Lehm, Stroh oder Hanf. Aber ohne Innovation würden diese Materialien nicht lange halten. Und dann gibt es die Hausautomation, die es dem Haus ermöglicht zu erkennen, wann die Kühlung ausgeschaltet oder ein Sonnenschutz aktiviert werden muss. Auch künstliche Intelligenz kann nützlich sein, wenn man sie nutzt, um Daten ökologisch zu lesen und zu interpretieren. Das Problem ist nicht die Technologie an sich, sondern wie wir entscheiden, sie in unser Leben zu integrieren.
Laura Arrighi: More verfolgt auch kulturelle Ambitionen, wenn es um das Wohnen geht. Im Rahmen des Forschungsprogramms ALTROVE, das du kuratierst, erforscht ihr neue Modelle – mit besonderem Blick auf ländliche Regionen und der Idee, lokale Gemeinschaften auf innovative und nachhaltige Weise zu stärken. Könnte man das als ein Nachdenken über kollektive Intelligenz verstehen?
Valentina Moretti: ALTROVE ist eine Forschung, die über das Produkt Haus hinausgeht, über die reine Architekturplanung. Sie sucht nach einer neuen Art zu wohnen, die für eine zirkuläre Zukunft verantwortungsvoller ist. Für mich bedeutet das nicht mehr, in Privathäusern zu wohnen, sondern zum Konzept einer Gemeinschaft zurückzukehren, die um einen gemeinsamen Hof lebt und Räume und Dienstleistungen teilt.
Laura Arrighi: Findet sich davon etwas in deinem eigenen Haus?
Valentina Moretti: Mein Haus ist lebendig, offen, gastfreundlich. Ich sage gerne, dass bei uns immer gefeiert wird. Meine Kinder meinen, es sei zu groß für fünf Personen, aber am Wochenende kommen Freunde, Verwandte, Kollegen. Es gibt immer jemanden, der kocht, etwas mitbringt, sich frei bewegt. Das Haus funktioniert wirklich, wenn es von mehreren Menschen bewohnt wird. Ich habe immer gedacht, dass die wahre Schönheit eines Raumes in seiner Fähigkeit liegt, Beziehungen zu schaffen.
Laura Arrighi: Der Mittelpunkt des Wohnzimmers ist das Standard-Sofa von Edra.
Valentina Moretti: Ich habe es gewählt, noch bevor ich es live gesehen hatte, fasziniert von der Geschichte des Unternehmens und der Qualität, die es in jeder Hinsicht auszeichnet. Dann habe ich seine technologische Komponente, den Komfort und die Fähigkeit, sich zu „bewegen“, schätzen gelernt. Es ist Teil meiner Lebensweise geworden: Ich würde es niemals ersetzen. Vielleicht ändere ich mal die Farbe, aber nicht das Sofa selbst. Es ist wie das Haus: Es verwandelt sich mit mir. Ich habe es wegen seiner fließenden Form, der unsichtbaren Technologie und seiner Anpassungsfähigkeit gewählt. Es ist ein Gegenstand, der sich nicht aufdrängt, sondern Handlungen begleitet. Es ist die ideale Ergänzung: ein Stück, das die Jahre nicht fürchtet, das sich integriert und im Rhythmus des Alltags lebt.